Als Alice mich zum ersten Mal anruft, sind die Bäume noch kahl und ihre Nachrichten so finster wie die Regenwolken am Himmel. Wir sprechen nur kurz. Sie möchte sich vom Geburtsvorbereitungskurs für Zwillings- und Drillingseltern im Juni abmelden. Vorzeitiger Blasensprung. 23. Schwangerschaftswoche. Wehen. Den Rest verschluckt der Nebel des Unaussprechlichen. Zu weit scheint das rettende Ufer entfernt. Zu klein die Hoffnung auf ein gutes Ende. 

Palliativbegleitung. Ethische Grauzone. Maximalbehandlung. Nicht lebensfähig. Ach du scheiße. Hunderte Wörter und Sätze überschlagen sich in meinem Kopf. Und in ihrem Herzen. Ich sage: „Das mit dem Abmelden… das machen wir jetzt erst mal nicht. Ihr schafft das noch bis Juni. Deine Jungs…die bleiben noch im Bauch.“ Ich höre mich sprechen. Aber ich glaube mir selbst nicht. 17 Wochen bis zum errechneten Entbindungstermin der Zwillinge. Mindestens noch zwei bis mit Lungenreifetherapie und Wehenhemmern schwere Geschütze im Kampf um die kleinen Wesen aufgefahren werden. Noch drei bis sich die Kinder aus dem lebensgefährlichen Bereich herausgekämpft haben. Noch fünf bis sie nicht mehr als Extremfrühchen gelten.

Wir verabschieden uns voneinander. Und ich weiß. Keine einzige Zahl, über die ich gerade nachdenke, keine Statistik, keine Erhebung und keine Langzeitstudie spiegelt die Not dieser Zwillingseltern. Spiegelt das unfassbare Leid. Und die Angst. Angst vorm Loslassen. Angst vorm Festhalten. Für immer Zwillingsmama. Ganz gleich, wie es ausgeht. Ich annuliere die Buchung der 29-Jährigen trotzdem nicht. Ich kann nicht. Ich will nicht. Ich wünsche mir so sehr einen guten Ausgang für die Familie.

Stattdessen Wiedervorlage nach vier Wochen. Wie das klingt. Und wie es sich anfühlt! Meine Hände zittern, als ich Alices Nummer wähle. Ich drehe die Lagen der Schwangerschaftsscheibe übereinander. 28. Schwangerschaftswoche. Wie ist es der starken jungen Frau wohl ergangen? Und was ist mit ihren wunderschönen Kindern? Besteht die Zwillingsschwangerschaft weiter fort? Ich stelle mich auf ein Trauergespräch ein als es klingelt. Sie meldet sich. Kraftvoll. Ungebrochen. Ich höre es sofort. Ihre Bauchzwerge leben! Sie ist noch schwanger! Ein Doppelwunder. Ihr Doppelwunder! Sie kann so stolz auf sich sein!

Und auf ihre Jungs! Diese kleinen großartigen Kämpfer! Aus dem kleinen Päckchen Butter – größer waren ihre Mäuse bei unserem ersten Gespräch nicht – ist bereits ein Kilo Zucker geworden. Also zwei. Eigentlich. Ich bin ganz durcheinander. Alice lacht. Viel. Und herzlich. Zwischendurch weinen wir beide. Ein wunderschönes Telefonat. Mit dem sie so viel Mut macht, so viel Unwichtiges verwischt. Und das ich nun mit Euch teilen möchte.

Sie erzählt. Von den ersten bangen Tagen und den ersten kleinen Schritten. Von der schwersten Entscheidung ihres Lebens. Und der Erkenntnis, nichts tun zu können, als ganz fest an ihre Kinder zu glauben. Von den Ärzten und Schwestern. Und immer wieder von ihren Jungs. Sie erzählt von dem Tagebuch, das ihre Mutter ihr geschenkt hat und in das sie nun seit Wochen kleine und große Briefe an ihre Kinder schreibt und in dem sie alles festhält. Den Ärger. Die Tristes. Den Sonnenstrahlen, die ihr Zimmer im Krankenhaus erwärmen. Von dem Gefühl, morgens aufzuwachen und zu wissen, dass ein weiterer wichtiger Tag geschafft ist. Von ihrer Hoffnung, der Verzweiflung und dem Schmerz, der immer wieder durchkommt. Von den inneren Festen, die sie feiert, wenn sie sich alle sieben Tage erlaubt, zum duschen aus dem Krankenhausbett aufzustehen. Und von dem lauter, immer lauter werdenden Gefühl, dass sie noch sehr lange schwanger sein wird. Mit gesprungener Fruchtblase. Irgendwie. 

„Die Vorstellung, meine Zwillinge gehen lassen zu müssen war so unerträglich, so unbeschreiblich schwer“, sagt sie. „Da habe ich begriffen: Das geht gar nicht. Das schafft kein Mensch. Das müssen wir jetzt gemeinsam durchziehen. Und irgendwie hinbekommen.“ Sie habe deshalb angefangen, mit ihren Kindern zu reden. Ihnen zu erklären, dass noch längst nicht Sommer und hier kein guter Ort für sie ist. Mehr noch. „Ich spiele ihnen Musik vor und wenn ihr Papa anruft, stelle ich den Lautsprecher an, damit sie wissen: Da ist noch jemand, der sich auf sie freut und sie liebt.“ Sie stellt sich vor, wie sie ihre Jungs mit nach Hause nimmt. Sie begleitet und aufwachsen sieht. Und ganz langsam diesen belastenden Krankenhausaufenthalt vergisst. „Es geht hier nicht um mich, darum, wie ich etwas finde oder wie ich mir etwas erhofft habe“, sagt sie. „Als mir das klar geworden ist, konnte ich den Alltag hier sehr gut annehmen.“ Und zwar ganz egal wie lange er auch dauern mag. „Je länger desto besser, oder“, wieder lacht Alice.

Inzwischen eine reelle Chance zu haben, Zwillingsmama zu werden und gesunde wunderbare Kinder in den Arm gelegt zu bekommen – diese Erkenntnis hält sie aufrecht. Und macht sie stolz. „Ich glaube fest an meine Kinder“, sagt Alice. „Nicht zu zweifeln, nie zu zweifeln und positiv zu bleiben hat uns gerettet.“ 

Ob ich ihre Buchung noch stornieren soll. Frage ich. Und kenne die Antwort bereits: Natürlich nicht! Ist ja bald Juni! Ist ja bald geschafft. 

Du betrachtest gerade … über die große Kraft der Hoffnung

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ulrike Schwager

    Hallo liebe Alex, was für eine bewegende Geschichte. Ich wünsche Alice und ihren Mäusen weiterhin viel Kraft und alles Gute. Wir Mamas kämpfen für unsere Doppelwunder!
    Gern würde ich auch meine Geschichte erzählen und mit euch teilen, vielleicht hilft sie anderen Mamas.
    Viele liebe Grüße
    Ulrike

Kommentare sind geschlossen.